Update 3: Wie kann man ein Zelt verlieren?!
Das war vor ca. zwei Wochen die Hauptfrage an mich, nachdem ich genau das fertiggebracht habe. Bis dahin war ich stolz darauf, in den Wochen meiner Reise nicht einmal den Deckel meiner Zahnpasta-Tube verloren zu haben. Und dann das!

© Andreas Tomsche
{a||0}Um die Antwort kurz zu halten: Ich hatte das Zelt morgens in einen Plastiksack eingerollt, der feucht war, und außen mit den beiden Gurten an meinem Rucksack befestigt. Beim Rangieren mit meinem Carrix-Transporter, auf dem sich der Rucksack befand, muss der feuchte Plastiksack dann seitlich aus den beiden Gurten gerutscht und eine steile Böschung hinuntergerollt sein. Alles Suchen meinerseits verlief erfolglos. Da ich bisher überwiegend im Zelt geschlafen habe, musste ich kurzfristig improvisieren: Ich nutze nun versuchsweise die Pilgerunterkünfte, um zu sehen, wie ich mit vielen Personen im selben Schlafraum klarkomme. Sollte das funktionieren, werde ich mir ein neues Zelt erst kurz vor meiner Ankunft in Santiago de Compostela zuschicken lassen. Falls die Schlafunterkünfte meinen Freiheitsdrang zu stark einschränken, werde ich mir das Zelt kurzfristig beschaffen.

© Andreas Tomsche
Vor wenigen Tagen hatte ich auf dem Jakobsweg „Halbzeit“, d. h. die Hälfte der insgesamt 2.400 Kilometer von Deutschland aus habe ich geschafft. Heute habe ich mir einen Ruhetag in Moissac, nahe Toulouse, gegönnt. Auch hier werde ich immer wieder gefragt, wie ich denn überhaupt eine so lange Strecke schaffen kann. Meine Antwort lautet dann immer: Das einzige Geheimnis liegt darin, nur an die heutige und maximal noch an die nächste Tagesetappe zu denken. Langfristige Planungen und Gedankenspiele bringen nichts, weil Faktoren wie z.B. auftretende Blasen und Schmerzen sowie schlechtes Wetter zu kurzfristigen Änderungen zwingen würden. Insofern ist es wirklich wichtig, die eigene Psyche nicht mit (sinnlosen) Langfrist-Planungen zu überfordern. Aber natürlich sollte man das große Ziel, egal ob das Erreichen von Santiago de Compostela oder die später folgende Bewältigung des Pacific Crest Trails, nie aus dem Auge verlieren, sei es durch ein moderates Lauftempo oder durch die Einplanung von ausreichend Ruhetagen.
Die große Freiheit
Beim Laufen auf dem Jakobsweg mit seinem meist engmaschigen Wegesystem (hier in Frankreich häufig die berühmten Muscheln) ist mir die Assoziation mit meiner behüteten Jugendzeit gekommen. Eigentlich kann mir hier nichts passieren, da ich „nur“ den Markierungen folgen muss. Ansonsten ist für mich gesorgt und ich lebe ohne große Verantwortung. Ich habe andere Pilger zum Reden, und die Unterkunft ist reserviert, sodass ich weiß, wo ich abends schlafen werde. Eigentlich ist es so ein bisschen wie Malen nach Zahlen: Einfach nur immer der nächsten Weg-Markierung folgen, und irgendwann ist die Tages-Etappe fertig. Da ich selbst vom Pilger-Virus befallen bin – dies ist mein dritter Camino –, sollen meine Ausführungen aber in keiner Weise als Kritik am Pilger-Dasein verstanden werden.

© Andreas Tomsche
Dagegen dürfte die folgende Reise in Patagonien das Erwachsen-Sein darstellen. Hier habe ich kein Wege-Leitsystem, sondern muss mit meinem GPS-Gerät selbst den besten Weg finden. Außerdem habe ich die volle Verantwortung für mein Tun, d.h. eigene Fehler werde ich bei der rauen Landschaft und Witterung unmittelbar zu spüren bekommen, z. B. durch feuchte Kleidung oder einen nassen Schlafsack. Insofern entspricht der Ablauf meiner Langzeit-Reise gewissermaßen den Entwicklungsphasen meines Lebens.
(Zu) kompromissloser Freiheitsdrang?
Viele dürften Chris McCandless, dessen Leben im Buch/Film „Into the wild“ dargestellt ist, kennen. Auch Dean Potter, der Free-Climber, Highliner und Wingsuit-Springer ist vielen noch in Erinnerung. Beide sind mittlerweile, auch aufgrund ihrer kompromisslosen Freiheitsliebe, nicht mehr am Leben. Etliche Kritiker werfen beiden vor, ihr Leben fahrlässig und sehr leichtsinnig aufs Spiel gesetzt zu haben und deshalb nicht als Vorbild zu taugen. Unstrittig ist bei beiden, dass sie bei ihrer individuellen Suche nach Freiheit an ihre persönlichen Grenzen gegangen sind bzw. diese auch bewusst überschritten und damit ihr Leben riskiert haben. Bei aller berechtigten Kritik bleibt aber doch die Frage, ob wir von beiden auch etwas lernen können, und wenn ja, was? Ich meine ja, schließlich haben beide kompromisslos auf ihre innere Stimme gehört und genau das Leben geführt, dass sie führen wollten, unabhängig aller gesellschaftlicher Konventionen.
Und schließlich werden wir als Menschen nur dann besser, wenn wir uns kontinuierlich an unsere eigenen Grenzen heranwagen. Auch das könnten wir von beiden lernen. Man muss ja nicht so weit gehen wie Dean Potter: Weil ihn das Sicherungsseil beim Balancieren zwischen zwei Felsen (Highline) in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt hat, ist er am Ende gänzlich ohne Sicherung balanciert.
Euer Andreas Tomsche

© Andreas Tomsche