Ulm Feeling: Stadtführung für Blinde

„Augen zu und durch.“ So könnte das Motto lauten, wenn ein Blinder eine Stadtführung anbietet. Doch neben Ohren und Nase sollte man auch die Augen aufhalten, wenn Hartmut Dorow seine ganz speziellen Touren durch Ulm anbietet …

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Bleiguss der Stadt Ulm: Fast jedes der Miniaturhäuschen ist mit Blindenschrift versehen.
© Ulm/Neu-Ulm Touristik GmbH

Text: Carolin Müller

Hartmut Dorows Hände tas­ten über das Dächermeer von Ulm. „Der Metzgerturm müsste noch schiefer sein und am Schwörhaus fehlt der Balkon“, findet er. „Aber ansonsten ist es ganz wunderbar.“ An dem für Blinde gedachten Tastmodell der Stadt beginnt er seine ganz besondere Führung. Veranstaltungen von Blinden für Blinde gibt es viele. Aber nicht von Blinden für Sehende. „Ulm Feeling“ heißt die Tour, in denen der 65-jährige Hartmut Dorow Sehenden seine Stadt Ulm zeigt.

Die Führung von Herrn Dorow ist aus der Arbeitsgruppe Barrierefreier Tourismus Ulm hervorgegangen, in der sich Vertreter aus Tourismus, Sozialeinrichtungen, Behindertenverbänden und Handel austauschen und konkrete Projekte gemeinsam angehen. Die Stadtleitung versteht den Rundgang als ein tolles, ergänzendes Angebot zum bereits vorhandenen konventionellen Führungsprogramm.

Brotgeruch und Bratenduft

Immer wieder fallen Sätze wie „Schauen Sie nach dort!“ oder „Sehen Sie den Münsterplatz?“ – eher untypisch für einen Blinden, meint man. Doch wer Hartmut Dorow begleitet und zuhört, vergisst schnell, mit wem er unterwegs ist. Und auch nicht. Andere Sinne bei Sehenden schärfen, darauf kommt es ihm an. Der Duft nach frischem Brot – und man weiß, dass eine Bäckerei nahe ist. Der Bratengeruch, der auf ein Restaurant hinweist. Oder die Häuserlücke, durch die die Sonne auf die Fußgängerzone scheint. Die Wärme vermittelt Dorow seinen genauen Standort. „Wir stehen jetzt direkt vor dem Kaufhaus“, spricht er selbstbewusst in die Runde.

Der Rundgang findet von Mai bis September einmal im Monat statt. Die Führungen beginnen am Stadtmodell für blinde Menschen auf dem Münsterplatz und enden im Duft- und Tastgarten. Rund 400 Blindenampeln, Rillen und Markierungen auf dem Boden, ein spezielles Tastmodell der Stadt: Ulm zählt zu den blindenfreundlicheren Städten Deutschlands. Trotzdem muss Hartmut Dorow sich bei seiner Führung sehr konzentrieren. Deswegen begleitet immer eine zweite, sehende Person die Gruppe. Auch Nicht-Blinde müssen aufpassen, dass sie im Bann der Stadtführung nicht mit einer Laterne kollidieren oder andere Passanten rempeln. Das fällt nicht immer leicht – Hartmut Dorows Erzählungen sind einfach interessant und fesselnd.

„Wie gehe ich mit einem blinden Menschen um? Muss ich besonders Rücksicht nehmen?“ Fragen, die sich viele Teilnehmer der Führung stellen. Doch bei Hartmut Dorow muss man nicht lange auf die Antwort warten. Er ist nicht schüchtern und fragt um Hilfe, wenn er zum Beispiel eine Toilette sucht. Er entschuldigt sich, wenn er andere versehentlich anrempelt. Falsche Rücksichtnahme lehnt er ab. „Ich komme in Ulm gut zurecht. Wenn ich Unterstützung wünsche, frage ich einfach.“

Barrierefrei auch für Blinde

Vom Ulmer Münster führt die weitere Strecke Richtung Neue Straße. Barrierefrei verlaufen hier die Spuren für Busse, Autos, Fußgänger und Radfahrer – auch für Blinde. Den Rand der Straße kleidet eine drei Zentimeter hohe Metallkante aus. Eine Initiative von Hartmut Dorow. „Diese Metallkante ist für uns Blinde sehr wichtig. Mit unserem Stock merken wir, dass der Bürgersteig hier aufhört. Sonst würden wir ja einfach so mitten in den Verkehr laufen.“

Ein Abstecher führt am Rathaus vorbei zum Metzgerturm. „Ich merke am Geruch, dass die Donau nicht mehr weit weg ist“, lächelt Dorow. Im Torbogen bleibt die Truppe stehen. „Fühlen Sie die Steine. Die Form ist ganz typisch für Ulm.“ Der Metzgerturm, auch als der „Schiefe Turm von Ulm“ bekannt, neigt sich 2,05 Meter nach Nordwesten. Das ist zwar nicht so stark wie beim Schiefen Turm von Pisa, dennoch aber ganz beträchtlich.

Den Abschluss der Führung markiert ein Besuch des Duft- und Tastgartens. Am Eingang befindet sich ein großes Aluminiumschild. Darauf steht in Blindenschrift, was man in der Anlage alles entdecken kann. Dieser Plan ist an mehreren Stellen im Garten aufgestellt, um die Blinden auf verschiedene Sachen, wie etwa Sitzbänke, hinzuweisen. Die Pflanzen wurden überwiegend in Hochbeeten angepflanzt. So können Blinde und natürlich auch Sehende ohne große Anstrengung an den Blumen riechen und sie befühlen. Schmuckstück der Anlage ist ein besonderer Brunnen. Seine speziell geformten Schalen versetzen das Wasser in Schwingungen, was sich mit den Handflächen erfühlen lässt.

Glockenspiel als Wegweiser

Zum Schluss bittet Hartmut Dorow, ihn an der Platzgasse unweit des Münsterplatzes abzusetzen. Den Weg dorthin hätte er bestimmt auch alleine gefunden, denn am Anfang der Straße erklingt gerade ein Glockenspiel mit der Melodie „Muss i denn zum Städtele hinaus“, die als Orientierung dient. Hartmut Dorow gibt jedem der Teilnehmer seiner Führung zum Abschied die Hand. „Ich gehe jetzt zur Straßenbahn und fahre nach Hause.“ Er verschwindet langsam in der Menschenmenge der Fußgängerzone, während er sich mit dem Blindenstock vorwärts tastet und die letzten Töne des Glockenspiels erklingen.

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Schwingender Brunnen: Das Schmuckstück des Duft- und Tastgartens für Sehende und Blinde.
© Ulm/Neu-Ulm Touristik GmbH

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Dieser Artikel ist aus der Ausgabe: wanderlust Nr. 04 / 2014

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