Die Sonne klettert gerade über die umliegenden Berge. Schon brechen erste Strahlen durch das Geäst des Mischwaldes, zaubern märchenhafte Lichtstimmungen auf den Wanderweg. Sie lösen den Morgendunst, der mystisch über den Wiesn wabert, wie mit Geisterhand auf. „Die Alchimisten im Mittelalter glaubten, wenn Sie den blinkenden Tropfen Morgentau in der Blüte des Frauenmantels absorbieren könnten, ließe sich daraus der sagenumwobene Stein der Weisen herstellen.“
Heureka, was für ein faszinierender Einstieg! Wir können die Alchimisten nur zu gut verstehen. Gleich zu Beginn unserer Blumen- und Kräuterwanderung vom malerischen Reit im Winkl über Umwege hoch zum Wetterkreuz begeistern uns die ausgebildete Kräuterwanderführerin Sylvia Schmuck und die pflanzenkundige Gartenbauingenieurin Tina Robok mit ihrer ganzheitlichen Herangehensweise.
Eine olfaktorische Genusswanderung
Wir passieren zu Beginn unserer Wanderung das Schwimmbad am Ortsrand und Tina öffnet uns den Blick für eine üppige Blumenwiese: „Seht her, Kuckuckslichtnelken, Kröterich, Schafgarbe, Hornklee, eine ganze Palette Knabenkräuter ... - natürlich laufen die meisten Wanderer hier fast achtlos vorüber, aber es lohnt sich kurz stehen zu bleiben, die Farben- und Formenpracht und natürlich auch die betörenden Duftnoten in sich aufzusaugen und diesen unglaublich bereichernden Moment an ‚Flower Power‘ zuzulassen“.
Wie recht sie hat, zumal die Sonne gerade abertausende, funkelnde Leuchtfeuer in den Wassertröpfchen des Morgentaus entfacht. Schnell wird uns klar, heute geht es nicht um Höhenmeter oder Gipfel – und das ist auch gut so. Denn heute öffnen wir die Pforte für optische und olfaktorische Genusserfahrungen und eine damit einhergehende Horizonterweiterung.
Genuss-Apotheke aus der Natur
Etwas oberhalb des Weges ragen lila, rote und blaue Akeleien in den Sommerhimmel. Die muster- gültigen Glockenblüten gleichen einem schöpferischen Gesamtkunstwerk. Sylvia zeigt uns Beinwell. „Nomen est omen, der hilft bei Knochen- und Muskelerkrankungen. Die Blätter zerrieben auf die Gelenke legen wirkt wahre Wunder. In der Homöopathie wird der Beinwell auch als Globuli verwendet. Nach der Blüte im Herbst lassen sich die Wurzeln auch zu einem Tee zubereiten, aber Vorsicht – der geht im Überfluss genutzt auf die Leber.“
Wir wenden den Blick vom Hang zum Bilderbuchdorf, wo direkt dahinter der majestätische Gebirgsstock des Wilden Kaisers wie ein Monolith in die Höhe wächst. Mitten im Bild dominiert ein riesiger, bald 20 Meter hoher Holunderbaum. Wir Städter kennen den Holunder eigentlich nur als Strauch. „Der Holunder lieferte zu Kriegszeiten oft die einzigen Vitamine“, berichtet Sylvia aus den Erzählungen ihrer Mutter. „Als Sirup dient er heute ja auch in Lifestyle-Limonaden und schmeckt im ‚Hugo‘ vorzüglich. Und Hollerkücherl, also die Blüten im Teig herausgebacken, sind eine feine Delikatesse als Nachspeise.“

Norbert Eisele-Hein
Natürliches Aspirin am Wegesrand
Wir verlassen den Hausberg und passieren auf dem Weg zum Amthorsteig eine prächtig gewachsene Linde. Tina räumt erstmal mit einem Ammenmärchen auf: „Solchen Exemplaren wird oft ein märchenhaftes Alter von bis zu 800 Jahren angedichtet, aber sie sind in Wahrheit maximal 250 – 300 Jahre alt. Die Linde gilt als herrliches Bienennährgehölz, was ihr an dem eifrigen Gebrumme und Gesumme ja schon von Weitem hören könnt.“ Sylvia entführt uns abermals zu den Germanen ins Mittelalter: „Linden wurden meist der Göttin Freya geweiht, sie standen oft an ortsbildprägenden Stellen und unter ihnen wurde häufig Recht gesprochen. Dazu passt die Bewertung aus der Psychotherapie, dass Linden für Licht und Kraft stehen und für eine positive Ausstrahlung sorgen.“
Wir wandern eine Weile auf dem Kapellensteig und schwenken dann auf den Hausbachfallsteig ein. Den Klettersteig, der oberhalb des malerischen Wasserfalls sportlich Ambitioniertere durch die Schlucht leitet, lassen wir rechter Hand liegen. Wir schnaufen links davon ein paar steile Serpentinen auf einem geschotterten und mit Knüppelhölzern befestigten Weg hinauf. Sylvia entdeckt ein weiß-blühendes Mädesüß. Der Name verspricht nicht zu viel. Es duftet nach Mandeln und Marzipan. „Bei den Germanen sorgte das Mädesüß für den eigentümlichen Geschmack des Mets, aber auch bei späteren Honigweinen und zum Bierbrauen fand es Verwendung. Als Vanille noch exotisch und unerschwinglich teuer war, verfeinerte es in vielen Backstuben die Kuchen. Dank seines Gehalts an Salicylsäure hilft es als natürliches Aspirin Schmerzen zu lindern und Fieber zu senken. Auch als Erkältungstee ist es enorm wirksam. Das Mädesüß ist also auch eine prima Arznei.“
Unzählige Heilkräuter
Direkt am Wegesrand unweit einer Rastbank erspäht Tina eine seltsame Pflanze mit einem allzu harmlosen Namen. „Das gewöhnliche Fettkraut ‚Pinguicula vulgaris‘ bedient sich einer Eigenschaft, die hierzulande selten ist. Das blauviolette Wasserschlauchgewächs zählt zu den fleischfressenden Pflanzen“, klärt uns Tina auf. Es erfordert ein scharfes Auge, um den perlenförmigen Klebstoff an der Innenseite der fleischig-flauschigen Blätter zu erkennen.
Kurz vor der Glapfalm führt uns der Wandersteig noch mitten durch eine opulente Almwiese. Die Damen werden gar nicht mehr fertig mit dem Aufzählen und Bestimmen der Arten: „Distel, scharfer Hahnenfuß, Ehrenpreis, Kerbel, Glockenblumen, Margeriten, Lichtnelken, Sauerampfer, Günsel, Pippau, der Zottige Klappertopf...“. Auch das Wiesenlabkraut entdecken wir in dieser kunterbunten, botanischen Festwiese. „Das Labkraut wurde seit jeher für die Gerinnung der Milch eingesetzt. Heute wird es nur noch von wenigen Käsereien im schweizerischen Emmental verwendet, weil sich das synthetische Lab doch wesentlich leichter für die industrielle Produktion verarbeiten lässt“, plaudert Sylvia aus dem Nähkästchen.

Norbert Eisele-Hein
Ein Blickfang hinter dem Gipfelkreuz
Auch die nahe Glapfalm ist eine Augenweide. Eigentlich ist sie nicht bewirtschaftet, aber der Almbauer hat ein paar Getränkekisten in einen ständig mit Brunnenwasser gekühlten Trog gestellt, die auf Treu und Glauben mit einer Briefkastenkasse bezahlt werden können. Nach einer gemütlichen Pause marschieren wir vorbei an einem Teppich aus süßlich-duftenden Maiglöckchen weiter bergwärts bis zum 1.061 Meter hohen Wetterkreuz – einem lohnenden Panoramagipfel.
Tina lenkt unseren Focus weg von den Gipfelzacken des Wilden Kaisers und den dagegen fast lieblich wirkenden grün-leuchtenden Chiemgauer Alpen, hin zur Rosa Canina. Die gemeine Hundsrose gedeiht gleich hinter dem kapitalen Gipfelkreuz. Welch banale Namensgebung für eine so leuchtend-rosa blühende Pflanze. Zumal sie im Herbst rote Früchte trägt, die – wer hätte es gewusst- sich zu einer leckeren Hagebuttenmarmelade einkochen lassen.
Die Pharmaabteilung der alpinen Pflanzenwelt
Der Abstieg entführt uns ein ums andere Mal in die Pharmaabteilung der alpinen Pflanzenwelt. Neben einem stattlichen Farn ducken sich die kompakten Blätter der Hepatica Nobilis, dem Leberblümchen auf den Waldboden. Sie sind giftig, helfen aber in der richtigen Dosis bei der Behandlung von Hepatitis und Leberzirrhose. Unweit davon entdecken wir das Lungenkraut Pulmonaria. „Das rosa-lila gefleckte Kraut kennen die meisten wohl als Pullmoll in Form von Hustenbonbons. Und schaut hier: Spitzwegerich und Breitwegerich lindern Juckreiz, wirken fantastisch gegen Blasen an den Füßen und bei Wunden. Die Blätter kann man zur Prophylaxe kongenial in die neuen Bergschuhe legen. Es lässt sich daraus auch eine Art Wiesenpflaster für Wunden oder ein wirksamer Hustensaft herstellen.“
Sylvia und Tina begeistern uns als sprudelnder Quell spannender Stories zu mittelalterlicher Mystik, Pharmazie und bodenständiger Pflanzenheilkunde. Diese Wanderung trainiert nicht nur die Waden, sondern wird wahrhaft wertvoll mit Wissenswertem angereichert. „Unsere nächsten Wanderungen führen zu Sibirischen Schwertlilien am Weitsee und in alpine Höhenlagen rings um Reit im Winkl, wo Schusternägel, Enziane und ganze Felder rosafarbenen Almenrauschs die Hänge überziehen“, lassen sie uns zum Abschied wissen. Wir sind dabei – denn Wandern plus Wissen macht richtig Spaß.
www.reitimwinkl.de/gefuehrte-wanderungen (kostenlos)

Norbert Eisele-Hein

Norbert Eisele-Hein
erleben & einkehren
Hüttentour mit Schmankerl
Die Wandertour von Reit im Winkl über die Hindenburghütte (1.260 m) zur Eggenalm offenbart zahllose, traumhafte Blumenwiesen. Von der Terrasse der Hütte reicht der Blick bis zum Chiemsee. Das Team um Günter Dirnhofer zaubert grandiose bayerische Schmankerl: leckere Braten, hausgemachte Kuchen und Strudel aus dem Holzofen zur Nachspeise. Tipp: Premium Vollmondwanderungen mit anschließender Hüttengaudi. Entweder zu Fuß hoch oder mit dem Shuttle von Reit im Winkl vormittags halbstündlich und am Nachmittag stündlich, von dort leichte Wanderung über die Hemmersuppenalm zur Eggenalm mit Blick auf den Wilden Kaiser. www.hindenburghuette.de
Auch die kleine, schnuckligurige Hutzenalm (970 m) befindet sich inmitten von Blumenwiesen und ist vom Ort bequem zu Fuß erreichbar, süßer Gourmet Tipp: Almnussen und Kaiserschmarrn. www.reitimwinkl.de/hutzenalm
Inclusiv-Card
Die Reit im Winkl Inclusiv Card eröffnet ein außer gewöhnlich umfangreiches Gratisangebot an geführten Wanderungen, Radtouren, Kids-Programmen (betreute Touren mit Bollerwagen zum Steinesammeln und Bemalen, Gestalten und Formen und anschließendes Würstlgrillen) oder auch Ponyreiten. Viele weitere Vergünstigungen zum Beispiel in den Schwimmbädern. www.reitimwinkl.de/reit-im-winkl-inklusiv-card