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Im Gespräch mit Dr. Martin Sorg

Der Entomologische Verein Krefeld hütet in den neuen Räumlichkeiten das Erbe, das Wissen zahlreicher Entomologen (Insektenforscher) und ist zeitgleich Forschungs- und Fortbildungsstätte für den Nachwuchs. Dr. Martin Sorg führt uns stolz durch die nicht enden wollenden Räumlichkeiten.
Dr. Martin Sorg neben Wand mit Schubläden.
©

Daniel Elke

Der neue Standort gleicht einem Hochsicherheitstrakt. Schwere Türen, die sich bei Rauchentwicklung automatisch verschließen, unzählige technische Gerätschaften treffen auf das größte Archiv an entomologischer Literatur. Uraltes Wissen im Verbund mit hochwertiger Technik aus Schenkungen und Nachlässen. Wie in einem Labor wird hier getüftelt, geschraubt, fotografiert und erschlossen. Und natürlich ist da das Archiv mit den über 2,3 Millionen Trockenpräparaten neben unzähligen weiteren in Konservierungsflüssigkeiten. Dass die erschreckenden Ergebnisse der „Krefelder Studie“ nur der Stein des Anstoßes sind und eine Erfassung der Komplexität der Lage noch deutlich mehr Wissen bedarf, dämmert mir, als ich mit Dr. Martin Sorg spreche.

Seit wann interessieren Sie sich für Insekten?

Viele Entomologen, gerade hier in Krefeld und Umgebung, entdecken bereits als Kinder mit acht, neun Jahren ihre Begeisterung für Insekten. Und bei vielen ist es dann ein fließender Übergang ins Wissenschaftliche gewesen. Das war bei mir auch so. Ich habe mich immer für verschiedene Insektengruppen interessiert und mich nicht auf eine fokussiert. Später habe ich mich dann schwerpunktmäßig mit den Hautflüglern befasst.

Wodurch hat die Krefelder Studie so an Bedeutung gewonnen?

Das zentrale Element war es, die Arbeitsmethoden zu standardisieren. Das ist hier in einem Zeitraum zwischen 1982 und 1984 passiert. Ohne diese standardisierenden Elemente hätte es keine seriös vergleichbaren Daten gegeben. Der weltweite Impact der Studie ergibt sich aus der Standardisierung der Methodik und dem Beibehalten dieser Standards über einen langen Zeitraum. Nur so ließen sich glaubwürdige Daten über die Biodiversitätsschäden sammeln.

Dabei hat die sogenannte Malaise-Falle eine maßgebliche Rolle gespielt …

Malaise-Fallen sind die beste derzeit bekannte Methode zur Erfassung eines breiten Artenspektrums flugfähiger Insekten und sie kommen daher unter anderem in Biodiversitätsprojekten und im Insekten-Monitoring zum Einsatz. Wir haben die Fallentechnik optimiert. Uns war es wichtig, eine möglichst große klare Vergleichbarkeit zu bekommen. Daher haben wir diese optimierten Insektenfallen auch in Eigenproduktion herstellten lassen. Heute sind sie weltweit im Einsatz.

Werden damit denn auch noch neue Arten entdeckt?

Bei den Insekten ständig, das ist ganz normal. Die Erfassung der deutschen Insektenfauna ist unvollständig. Und die Erfassung der Barcodes, also der Gensequenzen, die ist noch unvollständiger, sodass man einen ständigen Fortschritt braucht, um die Gesamtheit zu verstehen.

Nahaufnahme von Insekten.
© Daniel Elke

Von 1988 bis 2016 haben Sie Daten zur Entwicklung der Insektenbestände gesammelt. Drastische Bestandseinbrüche ließen sich klar nachweisen. Ein Rückgang von bis zu 75 Prozent der Fluginsekten-Biomasse.

Für viele Entomologen kamen die Ergebnisse nicht wirklich überraschend. Das hat sich in ihren Messungen auch abgezeichnet. Sie hatten aber nie dieses Volumen an Messdaten und nicht diese Standardisierung und auch nicht über so lange Zeiträume wie wir. Daher konnte das vorher nie eindeutig belegt werden. Für uns war es immer wichtig, dass wir keine Meinungsbilder abgeben, sondern Messdaten interpretieren. Diese sind aufgrund der Standardisierung nicht infrage zu stellen.

Wie wichtig sind Insekten für unsere Ökosysteme?

Alle terrestrischen Ökosysteme in unseren Breiten funktionieren nicht ohne Insekten. Nehmen Sie die Insekten aus dem System raus, dann bricht das System zusammen. Total!

Und auf diesem Wege befinden wir uns?

Sie können ein so einflussreiches und so anpassungsfähiges Element, das so groß ist wie die Insekten in den Ökosystemen, nicht als Ganzes rausnehmen. Dazu sind Sie als Mensch nicht in der Lage. Das heißt, andere Teile dieses Systems, unter anderem die Wirbeltiere, würden vorher aussterben. Wobei auch diese Prognosen, wann würden in welchen Biotopen oder Ökosystemen welche gravierenden Schäden auftreten, schwierig sind. Für solche Prognosen braucht man ausreichend Daten, die wir nicht haben.

Aber man denkt ja automatisch zukunftsgewandt, wenn man diese destruktiven Ergebnisse wie die der Krefelder Studie vorliegen hat.

Richtig, aber für eine klare Interpretation der Situation benötigen Sie möglichst viele Messwerte. Fehlen Ihnen die Messwerte, dann fehlt Ihnen die Interpretation der Messwerte, und dann fehlt Ihnen das Verständnis. Und wenn man das Verständnis über die Zusammenhänge nicht hat, dann entspricht das, was man dort sinniert, eben unter Umständen nicht wirklich der Realität. Und wir versuchen ja Realität zu erklären.

Was ist denn die Realität?

Dass wir kein ausreichendes Verständnis für die Realität der Biodiversität haben und noch nicht mal genau wissen, welche Funktionen die einzelnen Arten als Knoten in diesem sehr komplexen Netz haben. Das ist der Zustand, den wir in der Biologie, in der Beurteilung von dem, was in der Natur wirklich passiert, als „Blindflug“ interpretieren. Aufgrund des Fehlens von Messwerten, die zum Fehlen von Verständnis führen. In diesem Blindflug befinden wir uns. Stellen Sie sich mal vor, Sie beurteilen das Wirtschaftsleben einer Stadt. Sie haben nur Daten für Postämter und den Verkauf von Zeitschriften. Aber das wirtschaftliche Leben einer Stadt besteht aus einer Unzahl mehr Messwerten, die sie brauchen, um zu verstehen, was hier passiert.

Also müsste deutlich mehr geforscht werden?

Man müsste mehr wissen. Wie auch immer man dieses Wissen erlangt.

Hängt der Rückgang der Biomasse mit dem Klimawandel zusammen?

Im Prinzip ist es so, dass man versucht, Messdaten übereinanderzulegen. Man versucht sozusagen, Temperaturdaten der letzten 30 Jahre mit denen von Insektenrückgängen zu vergleichen. Das Gleiche wird dann noch mit weiteren Faktoren gemacht. Nur haben Sie auf der einen Seite Wetterstationen, die Temperaturen, Feuchtigkeit et cetera ziemlich umfangreich erfassen, was von Biodiversitätsmessdaten nicht ansatzweise gesagt werden kann. Natürlich gibt es Auswirkungen des Klimas auf Biodiversität, etwa bezogen auf Zuwanderungsraten. Die Klimageschichte von Mitteleuropa mit all ihren Höhen und Tiefen ist ja bekannt. Wir hatten in der Vergangenheit ein völlig anderes Klima mit einer völlig anderen Artenzusammensetzung, sowohl im Sinne von viel wärmer als auch im Sinne von viel kälter. Es ist nur die Frage, welche Zeitspannen man sich ansieht. Was hier im Oligozän los war oder während der Glazialperioden, war etwas ganz anderes. Und im Moment haben wir eine Wärmephase nach der letzten Eiszeit, die ja nun gerade erst mal vorbei ist.

Dr. Martin Sorg und wanderlust-Chefredakteur David Vinzentz
© Daniel Elke

Wie sind die Rückgänge der Biomasse denn dann zu bewerten?

Es stellt sich immer die Frage, in welchen Zeiträumen so etwas abläuft. Das ist immer entscheidend. Im Moment haben wir eine Aussterbequote, die so rasant abläuft, dass es wirklich in höchstem Maße bedenklich ist. Also das regionale Verschwinden von Arten, das sind Extinktionsprozesse. Das heißt, dass eine Art auf einmal in einem Teil von Deutschland oder in Deutschland insgesamt verschwindet. Es gibt natürlich die Möglichkeit, dass die Art vielleicht noch in anderen Ländern vorkommt, also noch nicht total ausgestorben ist. Aber ihr ganzer Genpool, der an die Region in Deutschland angepasst ist, der ist dann weg. Das sind irreversible Biodiversitätsschäden, und die haben in der Tat ein sehr bedenkliches Ausmaß. Wir nehmen unseren Nachkommen mit diesen Schäden jegliche Chance, diese noch zu kompensieren. Es ist etwas völlig anderes, wenn sich irgendwelche Temperaturverhältnisse ein bisschen ändern oder wenn bei Insekten die Biomasse mal rauf-, mal runtergeht. Das sind reversible Schäden. Es werden zwar auch Schäden verursacht, Systeme durcheinandergebracht. Aber das bewegt sich im reversiblen Bereich. Extinktionsprozesse, Aussterbeprozesse, bei denen ganze Arten aus Regionen verschwinden und damit ihr Genpool ausstirbt, sind unumkehrbar. Das ist dann im Grunde Nachhaltigkeit der besonderen Art und Weise.

Wie kann man dem steigenden Bedarf aussagekräftiger Daten zur Biodiversität gerecht werden?

Etwa mit genetischen Analysemethoden, dem sogenannten „Metabarcoding“, was uns schnell zu sehr vollständigen Artenlisten verhilft. Da sortiert man nicht mehr manuell, sondern Gesamtproben werden analysiert. Hier sind wir an der Methodenevaluation beteiligt. In unserer Trockenpräparate-Sammlung finden Sie die Ergebnisse der vergangenen Jahrzehnte mit den entsprechenden Etiketten. Datum, Fundort, Fallentechnik, Artenname und Entdecker. Das ist bei den modernen Analysemöglichkeiten ähnlich, nur dass es hier eben Insektenpulver und Flüssigkeiten gibt. Diese müssen ebenso als Restproben archiviert werden – für die Kontrollmöglichkeiten der Zukunft.

Arbeiten Sie im Entomologischen Verein Krefeld viel mit Nachwuchswissenschaftlern?

Als Entomologe baut man immer auf der Vergangenheit auf. Das ist mit ein Grund, weshalb es jüngere Entomologen hier ganz toll finden. Wir sind im Besitz einer ziemlich kompletten Fachliteratur, nicht nur auf Deutschland bezogen. Und dann gibt es eben die Vergleichssammlung von über 2,3 Millionen Trockenpräparaten, nicht eingerechnet die konservierten Insekten. Die jungen Entomologen haben hier die Möglichkeit, vor Ort mit hochwertigster Technik zu arbeiten und diese auch auszuleihen. Wir stellen ihnen die Literatur zur Verfügung und ältere Entomologen lernen die jüngeren an. Zudem finden hier auch immer wieder Betreuungen von Abschlussarbeiten an Universitäten statt, also von Masterarbeiten oder Promotionen. Dabei ist es uns wichtig, dass es eine vollumfängliche Online-Verfügbarkeit von Daten, Publikationen und Arbeitsabläufen gibt. Das sind heute die die wichtigen Kommunikationsstrategien für die Wissensvermittlung. Und die sollten eben auch konsequent kostenlos sein. Deshalb ist alles das, was hier publiziert wird, Open Access. Bisher haben wir über 2300 Publikationen herausgebracht, im Schnitt werden unsere Mitarbeiter ein- bis zweimal pro Tag zitiert. Der Wissens-Output ist riesig. Das ist auch notwendig, um sich dem Verständnis der Komplexität des Themas Schritt für Schritt nähern zu können.

Dr. Martin Sorg

... arbeitet als Wissenschaftler, Autor, Fachberater und Gutachter. Als leitender Wissenschaftler beim Entomologischen Verein Krefeld hat Dr. Martin Sorg, Ehrenpreisträger des Deutschen Umweltpreises 2020, mit der Veröffentlichung der „Krefelder Studie“ 2017 massive Insektenrückgänge wissenschaftlich untermauert. Er hat bis heute weit über 100 Forschungsprojekte des Entomologischen Vereins Krefeld und anderer Institutionen koordiniert und gilt als Spezialist für die Konzeption und Standardisierung entomologischer Methodik. 2021 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen.

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