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Kartograf Rolf Böhm im Gespräch

Mann mit Mission: Sachsens einziger Landkartenmaler Rolf Böhm erzählt im Interview, woran er seit 40 Jahren arbeitet.
Nahaufnahme einer Landkarte von Kartograf Rolf Böhm.
©

Manfred Daams

Herr Böhm, könnten Sie sich vorstellen, in einer anderen Region als in der Sächsischen Schweiz zu leben und zu arbeiten?

Eigentlich könnte ich jede interessante Landschaft bearbeiten. Aber es sollte schon so eine romantische, alte und wunderschöne Landschaft sein, mit ganz viel Wald und gern auch mit Felsen. Mit vielen Wanderwegen, Aussichten, Stiegen, Treppen, alten Raubschlössern, Felsennestern und Klettergipfeln. Am besten auch mit einer schönen Schmalspurbahn, einer Standseilbahn oder einer Zahnradbahn. Da ist nun einmal die Sächsische Schweiz für mich das Idealgebiet: Als Region nicht zu groß, sonst wäre es zu viel Arbeit. Aber auch nicht zu klein, sonst bräuchte man ja keine Karte. Die Sächsische Schweiz ist einfach mein Paradies.

Langweilige Landschaften wie Riesenlandwirtschaftsäcker, auch Reisenweidegebiete, die ohne einen einzigen Weg eingekoppelt sind, zersiedelte Ballungsraumränder, Landschaften mit Müllkippen, Steinbrüchen, Braunkohlentagebauen, Industriegebiete, Moore (sofern unwegsam), Truppenübungsplätze et cetera interessieren mich eher nicht. Auch Alpen, also das Hochgebirge, interessieren mich eher nicht.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine Wanderkarte erstellen? Was erledigt der Computer für Sie, was geschieht von Hand? Welche Arbeitsgeräte kommen dabei zum Einsatz?

Landkarten zeichnen ist reine Handwerksarbeit. Ich vergleiche meine Arbeit gern mit der eines Maurers. Was er mit Maurerkelle, Spitzkelle, Fugenkelle, Wasserwaage und Mörtel macht, mache ich mit Zeichenfeder, Reißfeder, Schriftfeder, Lupe und Tusche. Der Maurer richtet zuerst ein Schnurgerüst über der Baugrube auf, der Kartograf zeichnet als Erstes ein Ein-Zentimeter-Bleistift-Quadratnetz auf einem weißen Zeichenkartonbogen. Und dann wird Stück für Stück aufgebaut. Einen Stein setzen oder einen Strich zeichnen erscheint leicht. Wie man einen komplizierten Sims oder ein Felszeichnung macht, das lehrt einen die Erfahrung über viele Jahre. Wie in jedem Handwerk gibt es Tricks, die man kennen muss. Zum Beispiel darf man Tusche nur mit destilliertem Wasser verdünnen, sonst verläuft sie. Natürlich erfolgt heute etwa die halbe Arbeit am Computer. Ich scanne die Zeichnung ein, Schriften und Wegemarken folgen separat. Auch die Kartenaktualisierung geschieht am Computer. Würde ich das manuell machen und auf der Zeichnung rumkratzen, wäre das Original schnell verschlissen.

Sind Sie tatsächlich jeden Weg gelaufen, der auf Ihren Wanderkarten verzeichnet ist? Wie viel Zeit verbringen Sie in der Natur, um alle erforderlichen Messungen für eine Karte durchzuführen?

Ich kartiere rund zwei Quadratkilometer pro Tag im Gelände, wobei ich mit Finelinern meine Beobachtungen als „Hieroglyphen“ in Feldkarten eintrage. Daraus wird dann die Karte zusammengestellt. Um ein Wegenetz vollständig zu erfassen, müssen aber nicht alle Wege abgegangen werden, nur etwa ein Drittel, der Rest erschließt sich von selbst.

Als Vorlagen nutzen Sie sogenannte Messtischblätter von 1898 und 1931. Warum haben Sie sich gerade für dieses Ausgangsmaterial entschieden? Wie sind die Messtischblätter entstanden?

Myriaden von Kartografen und Geodäten haben zwei Jahrhunderte lang unsere ganze besiedelte Mutter Erde in Zigtausenden Kartenblättern kartiert. Bis es das Flugzeug gab, erfolgte das mittels eines kleinen Zeichentischs vor Ort im Gelände, dem Messtisch. Deutschland wurde im Maßstab 1 km = 4 cm (1 : 25 000) aufgenommen, das Ergebnis sind die „Messtischblätter“, insgesamt etwa 6000 Stück! Diese wurden dann in Kupfer gestochen und die gibt es bis heute. Sie werden als wertvoller Schatz in Bibliotheken und Landesvermessungsämtern bewahrt. Messtischblätter sind unendlich schön und detailliert, da ist jedes Haus und jeder Weg drauf.

Haben Sie eine Lieblingsbeschäftigung beim Zeichnen? Wie viel Zeit kostet es Sie insgesamt, bis eine gezeichnete Karte fertig ist und Ihre Arbeit gedruckt wird?

Stellen Sie sich das Kartenzeichnen bitte nicht zu romantisch vor. Es ist oft auch eine eintönige und langweilige „Friemelarbeit“, die unendlich viel Geduld erfordert. Wirklich schön wird es erst zum Schluss, wenn man das Ergebnis vorliegen hat. Eine kleine Karte zeichne ich schon einmal in einer Woche, für meine großen Detailwanderkartentitel benötige ich weit über 1000 Stunden.

Kartograf Rolf Böhm vor zwei Bildschirmen mit Landkarten.
© Manfred Daams

Was zeichnet den Charme einer Böhm-Wanderkarte aus? Welche besonderen und zum Teil auch ungewöhnlichen Signaturen weisen den Wanderern/ Nutzern auf Ihren Wanderkarten den Weg?

Die Handzeichnung sorgt dafür, dass die Karten nicht nur „irgendwelche Informationen“ enthalten, sondern darüber hinaus die Landschaft in einem wunderschönen und zugleich gut lesbar abgestimmten Kartenbild wiedergeben. Das ist zumindest mein Ziel. Tatsächlich wird es auch schon einmal etwas unübersichtlicher. Das liegt dann aber daran, dass die Felslandschaft oft auch sehr labyrinthartig und damit eben unübersichtlich ist. Die Karten sollen zugleich dem Insider ganz viele Detailinformationen liefern, aber auch zum Einstieg einen schnellen Überblick über die Landschaft bieten. Durch die örtliche Kartierung bekommt meine Karte „Seele“, denn auf der Karte ist auch schon einmal ein Hund, ein Misthaufen, ein Feldbahngleis oder ein kleines Wandermädchen eingetragen.

Sie sind ja in der DDR aufgewachsen: Was hat der Fall der Mauer und die Öffnung der Grenzen beruflich für Sie bedeutet?

Gute Frage. Schon zu Zeiten der DDR habe ich in meiner Freizeit Wanderkarten der Sächsischen Schweiz gezeichnet. Aber ich wollte deswegen nicht die Welt erkunden, sondern nur dieses kleine wunderbare, aber wegen seiner Labyrinthhaftigkeit doch fast unendlich erscheinende Stückchen Erde entdecken. Möglicherweise war es eine Art Alaska-Outdoor-Ersatz. Von Alaska oder anderen fernen Ländern eine Karte zu machen, hatte ich nie Lust. Vor dem Mauerfall nicht, denn da konnte man ja sowieso nicht hinreisen. Danach auch nicht, denn da gab es ja bereits die Karten zu kaufen. Auch erschlagen mich so riesige Ländereien eher mit ihren gewaltigen Flächen. Ich liebe eher das Kleinteilige und Großmaßstäbige, 10 cm = 1 km (1:10000). In diesem Maßstab habe ich mit der Sächsischen Schweiz Stoff für Jahrzehnte gefunden.

Wie wird man überhaupt Kartograf? Können Sie uns bitte kurz Ihren beruflichen Werdegang schildern?

Kartograf, dass ist ein alter, ziemlich seltener Handwerksberuf. In Deutschland gab es bis circa 2010 etwa 2000 Kartografen. Natürlich lernt man idealerweise ein Handwerk, das man gerne macht. Schon in der Schule habe ich gern Karten gezeichnet, etwa Stadtpläne von Dresden, und an Wandertagen war es für mich das Schönste, den Weg auf Karten zu erkunden. Wie ich Kartograf geworden bin? Ich habe mich beim Landesvermessungsamt um eine Lehrstelle beworben und wurde eingestellt. Ab 1974 habe ich drei Jahre Landkartenzeichner (mit Abitur) gelernt. Um es genau zu sagen (lacht), habe ich es ewig nicht gelernt, schlimm, schlimm. Dann hatte ich aber das Glück, dass mich die Armee eineinhalb Jahre als Kartenzeichner eingesetzt hat. Das war nach der Lehre ein ausgezeichnetes Praktikum. Da habe ich dann endlich richtig Zeichnen gelernt. Dann folgte viereinhalb Jahre lang das Studium der Kartografie an der TU Dresden. Man kann sagen, ich habe das Kartenzeichnen von der Pike auf gelernt, nicht erst drei Berufe ausprobiert oder als Seiteneinsteiger begonnen. So was war damals normal.

Warum haben handgezeichnete Landkarten im Zeitalter von Google Maps und anderer Online-Kartendienste überhaupt noch ihre Berechtigung? Was „können“ Karten, was das Navi nicht kann? Warum ist es heute nach wie vor wichtig, eine Wanderkarte von Hand zu zeichnen?

Vielleicht haben Sie recht, Karten haben heute keine Berechtigung mehr. Der Computer ist effektiver, schneller, billiger. Und dann bietet er eben das perfekte Datenhandling und Datenmanagement. Eine Karte ist wie ein Gedicht von Heine, ein Gemälde von Böcklin, ein Fachwerkhaus von 1720. Damit haben die sich früher mal Arbeit gemacht. Ist eben so altes Zeug, was es heute schwer hat. Es wird im Zeitalter von ChatGTP, Handyfotos und Gipskartonhäusern nicht mehr unbedingt gebraucht. Aber Sie merken schon, wir haben ja diese alte Sehnsucht in uns, nach dem Vergangenen, als die Dinge noch eine Seele hatten.

Ein Drittel der Gesamtfläche des Nationalparks Sächsische Schweiz ist als Kernzone ausgewiesen. Hier dürfen nur markierte Wege genutzt werden. Auf Ihren Karten sind aber auch Wege im Landschaftsschutzgebiet verzeichnet, die nicht betreten werden sollten. Können andere das nicht auch als Aufforderung zu einer Straftat verstehen? Was sagt die Nationalparkverwaltung dazu?

Oh, Aufforderung zur Straftat? Wir Kartografen sind ja eher so was wie Sachbuchautoren. Ein politisches Ansinnen haben wir nicht. Lässt du die Wege drin oder folgst du den „Anweisungen“ der Nationalparkverwaltung. Dann fragt man sich natürlich, wo fängt das an, wo hört es auf? Zuerst ist es nur ein einzelner „sensibler Weg“, der unerwünscht ist. Dann dieser oder jener Kernzonenweg, dann quasi alle Kernzonenwege, bald auch Wege außerhalb der Kernzone. Letztendlich ist es ein politisches Problem. Wenn das Umweltministerium den Menschen aus der Natur auszusperren wünscht, die Nationalparkverwaltung ist ja bloß deren Exekutive, müssen die Verantwortlichen auch zusehen, ob und wie das politisch durchzusetzen ist. So tun, als ob alle Wege erlaubt wären, aber dann dem Kartografen den „Schwarzen Peter“ zuspielen, er soll es lösen, indem er seine Karten zensiert? Also ich spüre da eine innere Abneigung. Da sträuben sich meine Nackenhaare. Das empfinde ich als irgendwie unanständig.

Landkartenmaler Rolf Böhm.
© Manfred Daams

Sie bezeichnen sich gern als „Wegedoktor“ und verstehen Wanderwege als Lebewesen. Was können wir aus Ihrer „Wanderweg-Heilkunde“ lernen? Was empfehlen Sie als Wegedoktor, damit Wanderwege gesund bleiben?

Unser Wegenetz ist ein über Jahrhunderte gewachsener Schatz, wertvoller als das Rheingold der Nibelungen. Wenn die Wege erzählen könnten: Martin Luther ist nach Rom gelaufen (und zurück), August Bebel von Wetzlar nach Leipzig. Heute haben es Wege schwer. Autobahnen, Fernstraßen, Mähdrescher auf den Feldern, Harvester im Wald, Gewerbegebiete und eben auch Nationalparks können Wegenetze krank machen. Dabei braucht es zu ihrem Wohlbefinden nur wenig, denn Wege haben ein starkes Immunsystem. Das Immunsystem der Wege sind wir Menschen. Wenn wir all die vielen kleinen Wege, die es nach wie vor überall gibt, ehren, achten und mit unseren Füßen bewandern, wird unser Wegenetz vital, gesund und kräftig bleiben. Wenn wir nichts dagegen unternehmen, dass immer mehr Wege weggeackert, nicht mehr gepflegt, überbaut, verboten oder gesperrt werden, wird dieser Schatz unwiderruflich verloren gehen.

Die Sächsische Schweiz verfügt über ein breites, sehr gut ausgewiesenes Wanderweg-Netz. Ich hatte unterwegs den Eindruck, dass man mit der Beschilderung nicht gerade spart. Kann das den Wanderer nicht auch überfordern? Vor lauter Schildern sieht man den Wald nicht ...

Auch das hängt mit dem Nationalpark zusammen oder besser, mit unserem Naturschutz-Denken. Eigentlich sind ja in einem Wandergebiet alle Wege Wanderwege. Doch immer mehr wird es Gewohnheit, sich nur noch dann auf einen Weg zu trauen, wenn er „ausdrücklich erlaubt ist“, also muss da ein Schild, ein Wegweiser oder eine Wegemarke dran. Das sorgt dann natürlich für eine gewisse Schildermenge. Doch Kenner wissen: Gerade die vielen kleinen, nicht mit Wegemarken versehen Wege sind am allerromantischsten.

In der Regel überprüfen Sie nach circa sieben Jahren, ob das von Ihnen gezeichnete Streckennetz noch seine Gültigkeit hat und ob sich die Landschaft im Laufe der Jahre verändert hat. Können Sie uns Beispiele nennen, auf welche Weise das geschieht?

Oh Schreck. Tausend Sachen: neue/geschlossene Kneipen, andere Wegemarken, neue Aldis, geänderte Wildfütterungen, Parkplätze, neue Kreisverkehre, Radwege, Wege im Wald, die zuwachsen oder breit als Forststraße ausgebaut werden, neue Klettergipfel, Lehrpfade, Waldbrände, Borkenkäfermikado, Schulen, Sparkassen, Postämter, die zumachen, Freizeitparks, Kletterwälder, Touristenschnickschnack, der aufmacht, neue Häuser, abgerissene Häuser, neu angepflanzter Wald, P+R-Parkplätze, asphaltierte Straßen, Campingplätze, die wie Pilze aus dem Boden schießen und wieder zumachen, Bäder, die auf- und zumachen, Wege und Straßen, die umbenannt werden ...

Gibt es Momente, die Ihnen bei Ihrer Arbeit besonders Freude bereiten? Was empfinden Sie beruflich als großes Glück?

Manchmal bin ich unterwegs im Gelände oder in einem Gasthaus. Und wenn ich dann eine Wandergruppe sehe, die eine Karte von mir vor sich auf dem Tisch liegen hat und die darüber berät, welche Wanderlinie sie auswählen soll, dann ist das für mich mein kleines, persönliches Glück.

Sie sind nicht nur Kartograf, sondern auch ein erfahrener Wanderer: Geben Sie uns doch bitte noch eine Empfehlung für eine Wandertour zum Schluss! Welche Wanderwege sind die schönsten in der Sächsischen Schweiz?

Die Hauptwanderwege sind am reizvollsten, aber auch am begangensten. Mein Lieblings-Wandergebiet ist die Hintere Sächsische Schweiz. Am Liebsten bewandere ich die unmarkierten Nicht-Kernzonenwege. Steinberg, Hölzigweg, Thorwald. Das ist aber keine Empfehlung, denn dort ist Borkenkäferwald, der einen, wenn Bäume fallen, umbringen kann. Meine Empfehlung ist der völlig unbekannte, wunderschöne, von der Nationalparkverwaltung freigeschnittene Hirschgrund bei Hinterhermsdorf, der von den Rabensteinen hinunterführt zum Comtessensteinweg.

Lieber Herr Böhm, wir danken Ihnen für dieses aufschlussreiche Gespräch!

Landkartenmaler Rolf Böhm unterwegs in der Natur.
© Manfred Daams

Rolf Böhm

... ist Sachsens einziger Landkartenmaler. Vor rund 40 Jahren hat er angefangen, die Sächsische Schweiz zu vermessen. Seitdem haben ihn die zerklüfteten Felsen des Elbsandsteingebirges nicht wieder losgelassen. Allein zwölf Detailkarten aus der Sächsischen Schweiz hat er mit spitzer Tuschefeder gezeichnet. Es sind detailverliebte Meisterwerke mit schelmischer Selbstinterpretation. Dafür verbringt Böhm nicht nur viel Zeit an seinem Arbeitsplatz. Er ist auch ständig in der Natur unterwegs. Denn die Wanderwege, die er zeichnet, ist er auch gelaufen. Seine Karten aber müssen nicht nur stimmen. Sie sollen auch die Schönheit der Landschaft wiedergeben.

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