Der Literaturwissenschaftler, der über Fallada promoviert hat, leitet seit 20 Jahren das Fallada-Museum, ein idyllisch am Ufer des Carwitzer Sees gelegenes Anwesen, in dem Fallada von 1933 bis 1945 mit seiner Familie lebte. „In völliger Ahnungslosigkeit hatte ich einen der schönsten, stillsten Erdenflecken ein gehandelt“, schrieb der Autor, „ein wenig abseits vom Dorf, zwischen Obstbäumen, von hohen Tannen beschirmt.“

Der Antrieb zum Schreiben
Die Tannen sind inzwischen gewachsen – und auch sonst hat die Fallada-Gesellschaft alles getan, um die Atmosphäre von damals wieder spürbar zu machen: Die Veranda, das Esszimmer, die Küche sehen genau so aus wie zu Falladas Zeiten. Auch das Arbeitszimmer des Autors von Werken wie „Kleiner Mann, was nun?“ oder „Jeder stirbt für sich allein“ wurde rekonstruiert – in der Schreibmaschine steckt ein Brief an seinen Verleger Ernst Rowohlt. 48 „Hier in Carwitz verbrachte Fallada seine wohl besten Jahre – seine produktivsten, ruhigsten, zufriedensten“, sagt der Museumsleiter, der sich schon als Kind für den Autor begeisterte: „Fallada hat es immer verstanden, politische Probleme und ihre Auswirkungen auf einzelne Schicksale in seine Texte zu verpacken. Das hat ihn zu seiner Zeit populär gemacht – und er ist es bis heute, denn seine Themen sind immer noch aktuell: die Arbeitslosigkeit, das Gefühl des Nicht-gebraucht-Seins, der Alkoholismus – aber auch die Liebe.“ Wir lassen uns durch den Garten mit dem Bienen haus, buntem Dreiecksbeet und Streuobstwiese treiben: Fallada schrieb in Carwitz nicht nur wie besessen an seinen Romanen – manchmal bis zu 20 Stunden am Tag –, sondern betrieb auch Landwirtschaft:
„Kaum jemand weiß, dass er auch Fachmann für Kartoffelzucht war und hier Mais anbaute“, sagt Stefan Knüppel. „Und Dachse wie Fridolin gefährdeten dabei seine Ernte.“ Während unseres Museumsbesuchs ist das Dorf zum Leben erwacht: Radler rasten an der plätschern den Bäk, Paddler warten an der Umtragestelle in der Ortsmitte auf ihren Einsatz. Kinder veranstalten einen Flohmarkt mit altem Spielzeug, ganz nach dem Vorbild ihrer Eltern, die an Ständen mit „Kasse des Vertrauens“ hausgemachte Marmelade, Kartoffeln, Eier und Gehäkeltes verkaufen. Auf dem Friedhof am höchsten Punkt des Dorfes kann man den Blick weit über den See Schmaler Luzin schweifen lassen kann, den wir gleich auf dem gut zehn Kilometer langen Fridolin-Wanderweg umrunden werden. Hier liegt auch das efeuumrankte Grab von Hans Fallada – mit dem Romanzitat „Und plötzlich ist die Kälte weg, eine unendlich sanfte grüne Woge hebt sie auf und ihn mit ihr.“

Einstiger Hutewald: Mächtige Eichen säumen den Fridolin-Wanderweg im Hullerbusch.
Oliver GerhardEin Juwel unter den Seen der Region
Am Ortsrand widerstehen wir der Versuchung, an der offiziellen Badestelle noch einmal ins Wasser zu springen, dann verschluckt uns der dichte Wald am Seeufer: Mächtige Buchen klammern sich an die Böschung, Schlingpflanzen wachsen an den Stämmen empor, Brennnesseln wuchern mannshoch rechts und links des Pfades. Betagte Ruderboote dümpeln unterm Blätterdach im Wasser, das hier hellblau schimmert. Einmal schallen die Kommandos einer Rudermannschaft über den See, später die spitzen Schreie von Kindern bei ihren Sprüngen ins Wasser. Alle paar Hundert Meter lockt eine winzige Bucht mit einem handtuchgroßen Sandstrand zum Baden – wenn sie nicht gerade besetzt ist: von zwei FKK-Fans, einem lesenden Paar in der Hängematte, einer Familie beim Picknick. Aber unsere Chance kommt noch! Der Schmale Luzin ist ein besonderes Juwel unter den Seen der Region. Er entstand während der letzten 49 Eiszeit, als die schmelzenden Gletscher Lehm, Sand und Kies ablagerten und damit den Grundstein für die heutige Landschaft legten. Steil fallen die bewaldeten Hügel zum See hin ab, der bereits 1939 zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Gut sieben Kilometer lang und bis zu 300 Meter breit, liegt er hakenförmig in der Landschaft. Seiner Tiefe von bis zu 34 Metern verdankt er auch besondere Farbspiele: Je nach Sonnenstand changiert er zwischen Jade, Smaragd und Türkis – ein Hauch von Karibik in Mecklenburg-Vorpommern. Doch wenn sich eine Wolke vor die Sonne schiebt, sieht es aus, als hätte jemand einen Lichtschalter unter Wasser ausgeknipst. Bis das Farbenspiel aufs Neue beginnt. Wir passieren den Karrengrund, einen steilen Einschnitt in einem Hügel, durch den die Anwohner einst ihr Trinkwasser mit Karren ins Dorf transportierten. An der schmalsten Stelle des Sees erreichen wir die Ziegenwiese. Wo früher Tiere weideten, kann man sich heute sonnen und am Strand baden – Zeit für einen Zwischenstopp. Nun ist es nicht mehr weit nach Feldberg, wo seit 1907 eine Fährverbindung über den Schmalen Luzin besteht – heute eine der letzten handbetriebenen Seilfähren Europas. Am hölzernen Fährhaus, in dem man auch zu einem Imbiss einkehren kann, herrscht reges Kommen und Gehen: Paddler bringen ihre Kajaks zu Wasser, Wanderer chillen auf dem Steg, ein paar SUP-Anfänger kämpfen mit dem Gleichgewicht. Ein Mann fällt besonders auf: Fährmann Thomas Voigtländer trägt Nagellack – an jedem Finger und jedem Zeh eine andere Farbe. „Das hat eigentlich als Wette angefangen“, erzählt der 61-Jährige lachend. „Aber dann wurde daraus ein Markenzeichen – und mittlerweile fehlt mir etwas, wenn ich ihn nicht trage.“ Seit beinahe 20 Jahren betreibt der gelernte Landmaschinenschlosser die Fähre. „Das ist für mich Berufung und Lebensinhalt“, sagt er. „Eigentlich wollte ich Kapitän werden – und obwohl das im Großen nicht geklappt hat, konnte ich mir den Traum im Kleinen er füllen.“ Während der Sommersaison lebt er dauerhaft am See: „Das ist eine kleine, heile Welt hier unten – und es fällt mir schwer, mich im Winter umzugewöhnen.“ Jede halbe Stunde setzt die Fähre mit Wanderern und Radfahrern an Bord zur anderen Seite des Sees über. Rund hundertmal muss der Fährmann für eine Strecke am großen Rad drehen. Weil das – ebenso wie das Schleppen der zentnerschweren Kanus – in die Knochen geht, hat Voigtländer zusätzlich eine Elektrofähre und ein Team von Helfern. So setzt uns eine junge Assistentin über – unterstützt von Kindern, die auch mal am Rad drehen wollen.

Wenn die Ruhe einkehrt
Nach einem steilen Aufstieg tauchen wir in den Hullerbusch ein: Seit dem 14. Jahrhundert war diese Hügellandschaft waldfrei, noch zu Falladas Zeiten betrieben die Einheimischen hier Landwirtschaft – zur Freude von Dachs Fridolin: „Auf den Feldern der Menschen und in ihren Gärten wachsen so schöne Dinge wie Möhren und Rüben, auf Beeten reifen köstliche Erdbeeren, […] und auch das ganz junge Grün der Saaten ist nicht zu verachten – dagegen schmeckt selbst das beste Waldgras noch sauer“, heißt es im Roman. Heute erstreckt sich hier eine wilde Mischung aus knorrigen Eichensolitären, Schafweiden und Trocken rasen mit Heidenelken, Witwenblumen und Storchschnabel. Meterhohe Ginsterbüsche säumen den Weg, Weißdorn, Holunder, Brombeeren und Hagebutten. Moos bedeckt die verstreut liegenden Findlinge. Immer wieder flattert, flirrt, segelt etwas über den Weg: eine Wildbiene, eine bunte Libelle, ein Vogelschwarm. Am Hauptmannsberg, mit 121 Metern der höchste Punkt des Fridolinwegs, stehen wir zwischen den Resten bronzezeitlicher Hügelgräber. Mehrere Sichtachsen geben den Blick frei auf die fjordartig zerklüftete Wasserlandschaft zwischen dem Zansen und dem Carwitzer See. Hundegebell und Gesang dringen aus dem Dorf Carwitz, dessen Dächer zwischen den Bäumen hindurchschimmern. Bei unserer Rückkehr hat das Fallada-Museum bereits geschlossen. Sobald es dunkel ist, erwacht der Garten zum Leben, dann tummeln sich nicht nur Rehe und Füchse zwischen den Obstbäumen: „Zurzeit wohnen zwei Dachse bei uns“, hatte Stefan Knüppel berichtet. „Wir haben eine Wildkamera installiert – auf den Bildern sieht man, wie sie sich durchs Gras schleppen.“ Und heute gibt es keinen Fallada mehr, der ihnen zu Leibe rückt.
Hundertmal am Rad drehen: Die Seilfähre verkehrt im Sommer jede halbe Stunde über den Schmalen Luzin.
Oliver GerhardErleben
Eintauchen ins Museum
Das Fallada-Museum (oben) unter Leitung von Stefan Knüppel kann man alleine, im Rahmen einer Führung oder mit Audio-Guide erkunden, und es gibt regelmäßig Lesungen sowie literarische Spaziergänge. Vom 18. bis 20. Juli 2025 finden die Fallada-Tage statt (www.fallada.de).
Den Fridolin-Wanderweg kann man an der Fährstation in Feldberg oder in Carwitz beginnen. Beachten sollte man, dass sich die Fährzeiten nach der Saison richten und vor Ort tagesaktuelle Änderungen möglich sind (www.luzinfaehre.de).
Weitere Infos über die Region bei der Kurverwaltung (www.feldberger-seenlandschaft.de) und beim Tourismusverband Mecklenburg- Vorpommern (www.auf-nach-mv.de).

Schmecken
Nachhaltiger Fischfang
Der Fischer Oliver Pahlke bewirtschaftet auf nachhaltige Weise neun Seen der Region. Er fängt dort Hechte, Schleie, Aale, Weißfische sowie Maränen und räuchert sie mit Buchen- und Erlenholz. In seinem Fischladen im Zentrum von Feldberg kann man unter anderem die Spezialität „Fisch im Fladenbrot“ probieren (Do.–Mo. 11.30–18.00 Uhr, Strelitzer Str. 2, www.seenfischerei-feldberg.com). Beim Wandern lohnt sich die Einkehr im Schäferladen auf eine Lammsoljanka, ein Stück Kuchen oder ein Ziegenmilcheis, außerdem gibt es Produkte aus Schafwolle (Mi.–So. 11.00–17.00 Uhr, www.schaeferei-hullerbusch.de)