Wandern durch das Land Shakespeares

„Bereits im 18. Jahrhundert entstand ein touristischer Hype rund um Shakespeare“, berichtet Museums-Guide Oliver. „Im obersten Stockwerk des Hauses gibt es ein Fenster aus der Zeit, auf das zahlreiche Besucher ihren Namen gekritzelt haben, darunter auch Prominente wie die Schriftsteller Sir Walter Scott und Alfred Tennyson.“ Zweihundert Jahre später zieht das Geburtshaus des berühmtesten aller englischen Dramatiker – ein Bau aus braunem Fachwerk und ockerfarbenem Lehm – noch immer massenhaft Touristen an. Rund zwei Millionen pilgern jährlich nach Stratford-upon-Avon, jener malerischen Kleinstadt in der Grafschaft Warwickshire, in der der große William Shakespeare Beginn und Ende seines Lebens verbrachte – und vielleicht den ein oder anderen Spaziergang durch die sanfte Hügellandschaft unternahm, wann immer es beim Schreiben mal hakte? Stratford jedenfalls ist das Tor zu den nördlichen Cotswolds, jener Bilderbuchlandschaft, die sich über fünf Grafschaften erstreckt und gern als „Herz Englands“ bezeichnet wird. Alles, was wir als „typisch englisch“ erachten, findet man hier: grüne Hügel, pittoreske Dörfer, imposante Schlösser, schnuckelige Cottages, sprudelnde Bächlein und urige Pubs.

Das verschlafene Stanton zählt zu den schönsten Dörfern der Cotswolds – viele der Häuser stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert.
Alexa ChristMehr noch: Die Orte sind eine einzige Symphonie aus Cotswold Stone, einem Jura-Kalkstein, der reich an Fossilien ist und je nach Verwitterung gern von honig- bis goldfarben changiert. „Die Wahrheit ist, dass er keine Farbe hat, die man beschreiben könnte“, notierte der Schriftsteller und Journalist J. B. Priestley in seinem 1934 erschienenen Buch „Englische Reise“. „Selbst wenn die Sonne verdunkelt und das Licht kalt ist, sind diese Mauern immer noch schwach warm und leuchtend, als ob sie das Kunststück beherrschten, das verlorene Sonnenlicht von Jahrhunderten um sie herum schimmern zu lassen.“

Englische Bilderbuchlandschaft: Die Cotswolds sind für ihre sanften Hügel bekannt. Grasende Schafe machen das Bild perfekt.
Alexa ChristHerrliche Häuser aus gelbem Sandstein
Das kleine Stanton etwa, von der britischen Tageszeitung „Daily Telegraph“ 2017 zum „hübschesten aller Cotswold-Dörfer“ erkoren, ist fast ausschließlich aus dem gelben Kalkstein geschaffen. Hier tragen die 400 Jahre alten Häuser mit den steilen Giebeldächern und kleinen Koppelfenstern so malerische Namen wie „Orchard House“, „Windrush“, „Oat Hill“ oder „The Cloisters“. Stockrosen klettern die Fassaden hinauf, und die Lavendelblüten verströmen einen bezaubernden Hauch Provence-Feeling.
Der Cotswold Way, ein 164 Kilometer langer Fernwanderweg, durchzieht den Ort. Erlaufen sollte man die herrlichen Cotswolds auf jeden Fall, denn englischer könnte eine Landschaft kaum anmuten. Gleich hinter dem Ortsende von Stanton etwa beginnt ein wunderbarer Rundweg – zunächst beharrlich bergauf, denn der Namensteil „Wolds“ steht für die vielen Hügel der Gegend, und Stanton liegt am Fuß des Cotswold Escarpment, eines Steilhangs, der erklommen werden will. „Können Sie den Pflock mal kurz halten?“, ruft eine ältere Dame in Gummistiefeln und Krempelbluse, die sich am Rand des Wegs zu schaffen macht.
Mit ein paar Sandsäcken müht sie sich, den Lauf einer kleinen Quelle davon abzuhalten, auf ihr Gartengrundstück zu sickern – in England scheinen Dürre-Sommer noch kein Thema zu sein. „Es ist eine Unverschämtheit! Die Behörden müssten hier einen Gully schaffen, damit das Wasser ablaufen kann!“, schimpft die Dame. Das Wanderherz hingegen erfreut sich am satten Grün der Landschaft, nascht an den zahllosen Brombeeren, die den Weg säumen, taucht ein in schattige Wäldchen und scheucht dabei etliche Rebhühner auf.
Irgendwann ist die unvermeidliche Schafweide erreicht, die nie weit weg ist, schön hoch liegt und den Blick freigibt auf ein im Talkessel liegendes Village. Es ist das idyllische Snowshill mit seinem elisabethanischen Manor House aus dem 16. Jahrhundert – einst das unkonventionelle Zuhause eines echten britischen Exzentrikers: Charles Paget Wade, 1883 geboren, war Architekt, Künstler, Erbe einer Zuckerplantage in der Karibik und mit Leib und Seele … Sammler! An die 20 000 Objekte trug der Mann zeit seines Lebens zusammen, darunter Samurai-Rüstungen, afrikanische Masken, Musikinstrumente, Fahrräder, Möbel, Spielzeug oder historische Kostüme. Schrecklich viele historische Kostüme. „Wir sprechen hier von ungefähr 4000 Kleidungsstücken“, erzählt Janet, die im Auftrag des National Trust über die randvoll zugestopften Räume wacht. „Charles Wade liebte es, seine Besucher in Kostümen zu empfangen. Oft verschwand er aus einem der vielen Zimmer des Hauses, nutzte einen der Geheimgänge und machte sich einen Spaß daraus, die Gäste in einem anderen Raum in völlig neuer Kostümierung zu überraschen.“

Der Markflecken Chipping Campden stammt aus dem 12. Jahrhundert und ist ein genauso bezauberndes wie lebhaftes Städtchen.
Alexa ChristOb der Exzentriker auch die Strumpfbänder der unglückseligen Marie Antoinette, der letzten Königin von Frankreich, anlegte, die heute in einer Vitrine zu bewundern sind? Schon Wades Zeitgenossen begegneten dem Museum, zu dem der Sammler sein Zuhause gemacht hatte, mit gemischten Gefühlen. Die einen liebten es, die anderen verabscheuten es. Die Schriftstellerin Virginia Woolf etwa fand Snowshill Manor „nicht sonderlich interessant“ und zürnte Wade, dass er zwar unzählige Uhren besaß und ausstellte, doch keine von ihnen die richtige Zeit anzeigte, sodass sie ihren Zug verpasste.

Schaffner Graham Scott begleitet ehrenamtlich den Museumszug von Broadway nach Cheltenham.
Alexa ChristRegion der Künstler und Exzentriker
„Welche Freude es ist, mit diesen alten Dingen zu leben – jedes Stück verfügt über eine Individualität, die keine Maschine jemals erreichen könnte“, schwärmte Wade stattdessen. Dass er sich ausgerechnet die Cotswolds aussuchte, um seiner Leidenschaft zu frönen, dürfte kein Zufall gewesen sein. Hier lag zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Zentrum der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung, die sich als Designphilosophie gegen die industrielle Massenproduktion wandte, sich auf das handwerkliche Kunstgewerbe zurückbesann und den späteren Jugendstil, die Wiener Secession und das deutsche Bauhaus maßgeblich beeinflusste.
Im charmanten Chipping Campden, einem Marktflecken aus dem 12. Jahrhundert und Startpunkt des Cotswold Way, siedelten sich im Jahr 1902 unter der Führung des Architekten und Silberschmieds Charles Robert Ashbee 50 Londoner Kunsthandwerker und deren Familien in einer alten Seidenspinnerei an – inspiriert von der Schönheit der Landschaft und ihren Traditionen. Wie oft die Künstler wohl dem Wanderweg hinauf nach Dover’s Hill folgten? Das natürliche Amphitheater bietet einen großartigen Ausblick auf das Vale of Evesham.
Von May Hill im Westen reicht das Panorama bis Coventry im Osten. Wer hier oben nicht zum Künstler wird, der … muss stattdessen das Zeug zum Sportler haben. Seit 1612 ist Dover’s Hill der Austragungsort einer überaus bizarren Veranstaltung: der Cotswold Olimpick Games. Dabei werden nicht etwa die Besten in Weitsprung, Sprint und Co. gesucht. Nein, die Teilnehmer messen sich in Disziplinen wie „Schienbeintreten“. Auch Tauziehen ist beliebt. „Holzscheitweitwurf“ entfacht Begeisterungsstürme. Unter den ersten Zuschauern könnte gar William Shakespeare gewesen sein – Historiker wollen Anspielungen auf die eigentümlichen Spiele, die heute mit Musik, Feuerwerk und viel Tamtam gefeiert werden, in zwei seiner Stücke entdeckt haben.

Sudeley Castle ist ein herrschaftlicher Landsitz im Tudorstil. Das Schloss befindet sich in Privatbesitz, ist aber für die Öffentlichkeit zugänglich.
Alexa ChristDie sprichwörtliche Exzentrik, für die Briten in aller Welt berühmt sind, begleitet uns beim Wandern in den Cotswolds jedenfalls auf Schritt und Tritt. Nachdem hinter Dover’s Hill ein eher unspektakulärer Abschnitt aus Feldern passiert ist, geht es wieder bergan auf den Beacon Hill, der mit 312 Metern der zweithöchste Punkt der Cotswolds ist. Hier ragt urplötzlich, ja ein wenig unmotiviert die einsame Silhouette des Broadway Tower in den englischen Himmel. Der 16,5 Meter hohe Turm aus Kalksteinquadern ist ein sogenanntes Folly – ein weitgehend zweckfreies Gebäude, wie es bei Wikipedia so schön heißt. Erbaut wurde der Turm 1794 vom Architekten James Wyatt für keine Geringere als Lady Coventry.
Die adelige Dame interessierte sich brennend für die Frage, ob ein Leuchtfeuer auf dem Berg von ihrem 35 Kilometer entfernten Haus in Worcester zu sehen sei. Ist es, wie sich nach dem Bau des Turms bald herausstellte. An klaren Tagen kann man von der Spitze sogar volle 16 Grafschaften erblicken. Bis nach Südwales reicht die Aussicht. Zu Füßen des Towers breitet sich das malerische Örtchen Broadway aus, das als Zentrum des Woll- und Tuchhandels seit elisabethanischer Zeit zu Wohlstand gelangte.
Heute drängen sich auf der breiten Hauptstraße, die dem Ort den Namen gab, etliche Cafés, Pubs, Boutiquen und Antiquitätenläden. Auch Broadway war ein Zentrum der Arts-and-Crafts-Bewegung. Dem Möbeldesigner Gordon Russell, der 1904 als Zwölfjähriger mit seiner Familie nach Broadway zog, ist ein eigenes Museum gewidmet. „Sein Ziel war es, stilvolle und bezahlbare Möbel für alle zu schaffen“, sagt Christine, die im Museumsshop arbeitet. „Nachdem er im Ersten Weltkrieg gedient und die damit verbundenen Schrecken erlebt hatte, wollte er auf diese Weise etwas zurückgeben.“
1925 gewann Russell mit einem aus heimischen Hölzern gefertigten Kabinettschrank mit innen liegenden Schubfächern die Goldmedaille bei der Pariser Designausstellung. Seine Möbel fügen sich perfekt in den Bauhaus-Stil ein. Ein Stück zeitlose Moderne.

Im hübschen Broadway ist im Sommer immer was los – gerne treffen sich dort Oldtimer-Fans.
Alexa ChristWinchcombe heißt Wanderer willkommen
Wobei die Briten durchaus einen Hang zur Nostalgie haben. In Broadway hat ein Verein aus Freiwilligen eine 1904 erbaute und lange stillgelegte Bahnstrecke in Teilen reaktiviert. So kann man seit 2001 die 28 Meilen von Broadway bis zur berühmten Pferderennbahn von Cheltenham wieder mit historischen Diesel- und Dampfloks zurücklegen. „Alle einsteigen!“, ruft Schaffner Graham Scott auf einem Gleis, das aussieht wie aus einem Agatha-Christie-Roman. Als er die Kabine betritt, um die Fahrkarte abzuknipsen, bemerkt er mit typisch britischer Selbstironie: „Nur die Dinge, die mit der Vergangenheit zu tun haben, machen wir in diesem Land noch wirklich gut.“ In Winchcombe hält der Zug in der selbst ernannten „Wander-Kapitale“ der Cotswolds. Sheila und Rob Talbot leben hier. Sie gehören den Winchcombe Welcome Walkers an, die Wanderwege anlegen und in Schuss halten, Broschüren und Führer herausgeben sowie jedes Jahr im Mai ein Wanderfestival organisieren. „Der Winchcombe Way wurde von uns geschaffen“, erzählt Sheila. „Er ist ein knapp 68 Kilometer langer Weg, der zu all den Schönheiten unserer Region führt.“ Stanway House ist darunter, ein herrlicher Landsitz aus der Zeit der Jakobiten. Oder Sudeley Castle. Einst gehörte es dem berüchtigten Heinrich VIII., der mit Vorliebe seine Ehefrauen köpfen ließ. Natürlich führt der Weg auch auf den Cleeve Hill, den mit 330 Metern höchsten „Gipfel“ der Cotswolds.
Von hier reicht der Blick bis zu 140 Kilometer weit bis nach Exmoor in Somerset. Und dann Winchcombe selbst: Als der heutige König und damalige Prinz Charles die kleine mittelalterliche Stadt vor ein paar Jahren besuchte, wurde extra die Straße vor der Kirche erneuert.
„Wenn man bei uns irgendetwas erledigt bekommen will, muss man ein Mitglied der königlichen Familie einladen“, verrät Rob sarkastisch. „Überall, wo die Queen früher hinkam, roch es nach frischem Asphalt.“ Der im September 2022 verstorbenen Königin wurde nachgesagt, eine leidenschaftliche Wanderin zu sein.
Ob sie sich auch die Cotswolds erlief? Vielleicht. Denn wie sagte die großartige Helen Mirren als Königin Elisabeth II. im Film „The Queen“ so schön? „Ein guter Fußmarsch durch frische Luft klärt alles.“
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Unsere Wandertipps
Cotswold Way
Wer die ganze Schönheit der Cotswolds erleben möchte, kann die Region über den 164 Kilometer langen Cotswold Way erwandern. Der National Trail verbindet das hübsche Chipping Campden im Norden mit dem mondänen Kurort Bath im Süden. Der Weg ist in 15 Etappen unterteilt und führt an etlichen historischen Sehenswürdigkeiten vorbei. Die Cotswolds erstrecken sich von den Wiesen der oberen Themse als Steilhang, dem sogenannten Cotswold Escarpment, über das Severn Valley und Evesham Vale. Der größte Teil der Route folgt der Kante des Steilhangs, dem „Cotswold Edge“, und bietet wunderbare Ausblicke auf die umliegende Landschaft.
Winchcombe Way
Der knapp 68 Kilometer lange Winchcombe Way erkundet in Form einer Acht die Region um das Wanderzentrum Winchcombe im Norden der Cotswolds. Die Ostkurve der Route führt von Winchcombe ins Farmcote Valley, entlang des Cotswold Escarpment durch malerische Orte wie Buckland, Laverton und Stanton zurück nach Winchcombe. Die Westkurve steigt von Winchcombe hinauf auf den Langley Hill, dann zum Dumbleton Hill und Nottingham Hill bis nach Cleeve Common. Von dort geht es über die Megalithanlage Belas Knap und das Schloss Sudeley Castle zurück nach Winchcombe.
www.winchcombewelcomeswalkers.com
Erleben
Der Handwerker als Künstler
Die Arts-and-Crafts-Bewegung war eine ästhetisch-philosophische Designbewegung um die Wende zum 20. Jahrhundert, die sich auf vorindustrielle Techniken in der dekorativen Kunst konzentrierte. In Architektur, Möbel- und Textilfertigung, Töpferei, Metall- und Glaswaren ging es darum, traditionelles Kunsthandwerk wieder aufleben zu lassen. Der Begriff tauchte zum ersten Mal im Jahr 1887 im Zusammenhang mit der Gründung der Arts and Crafts Exhibition Society in London auf, doch der Stil selbst hatte sich schon Jahre zuvor entwickelt. Die Cotswolds bildeten dabei rasch ein Zentrum der Bewegung. So verbrachte deren Gründer, der Maler, Innenarchitekt und Dichter William Morris, seine Sommer in Kelmscott Manor bei Cirencester. Ihm folgten weitere Designer wie Ernest Gimson sowie die Brüder Ernest und Sidney Barnsley in die Cotswolds. 1902 schließlich führte der Innenarchitekt und Designer Charles Robert Ashbee insgesamt gut 50 Londoner Kunsthandwerker und deren Familien nach Chipping Campden, wo sie eine Manufaktur in einer ehemaligen Seidenspinnerei eröffneten. Heute kann man die Geschichte und Werke der Arts-and-Crafts-Bewegung in den Cotswolds an verschiedenen Orten erleben, so zum Beispiel im Court Barn Museum in Chipping Campden, im Gordon Russell Museum und im Broadway Museum & Art Gallery in Broadway. Auch das Wohnhaus von William Morris in Kelmscott ist der Öffentlichkeit zugänglich.