Windstille über dem Wasser: Nicht die leiseste Brise bewegt die Äste der riesigen Fichten, kein Hauch kräuselt die Oberfläche des tiefblauen Sees. Darin spiegeln sich die jungen Birken, die das Ufer säumen, mit ihrem frühlingsfrischen Grün. Doch von Stille kann keine Rede sein: Grünfink und Tannenmeise, Buchfink, Fitis und Zaunkönig wetteifern mit ihrem Gesang, der immer wieder vom rauen Krächzen eines Raben unterbrochen wird. Die fjordartig ausgeschnittene Landschaft rund um den Trinkwasserstausee Eibenstock weckt Assoziationen an Skandinavien oder Kanada. Nur selten blitzt einmal ein Haus zwischen den Bäumen durch, andere Wanderer sind nicht in Sicht. Hinter jeder Kurve eröffnen sich neue Blicke auf das schimmern de Wasser, auf Teppiche von Vergissmeinnicht am Wegesrand und Reste historischer Hohlwege aus dem Mittelalter. Die Route entlang der Talsperre ist ein Höhepunkt des 85 Kilometer langen Jakobswegs Silberberg. Der Pilger weg führt von Annaberg-Buchholz durch das Erzgebirge über Schneeberg nach Eich, wo er in den Sächsischen Jakobs weg an der Frankenstraße mündet. Die Strecke wurde erst vor gut zehn Jahren ins Leben gerufen, und doch gibt es hier bereits zahlreiche Stationen für Pilger wanderer, zum Beispiel die Hospitalkirche Sankt Georg in Lößnitz.
Sinnstiftende Erfahrungen
„Bei uns treffen sich mehrere Pilger- und Wanderwege, das ist eine super Lage für eine Pilgerkirche“, sagt Pfarrer Raphael Weiß. Der Geistliche führt mich auf die Empore des Gotteshauses und zeigt die Stelle, an der er den Ein bau einfacher Betten für Pilger plant. „Dann soll es auch ein Catering durch ein Café und vielleicht noch eine klei ne Andacht geben.“ Bis es so weit ist, kann man bei gast freundlichen Gemeindemitgliedern übernachten. 54 Darüber hinaus ist die Kirche eine Kulturstätte, in die sem Jahr als Standort des Skulpturenwegs „Purple Path“, der im Rahmen der Kulturhauptstadt Chemnitz durch die Region führt. Ich schnappe mir eines der Kaleidosko pe, das man ausleihen kann, um ein Werk der Künstlerin Rebecca Horn zu betrachten: Die Installation mit zahlrei chen Spiegeln spielt auf spannende Weise mit dem Raum und dem Licht. Auf dem angrenzenden verwunschenen Friedhof finden Pilger in einem Kästchen eine Stempelstelle des Pilgerwegs. Jede Station entlang der Strecke hat einen individuell gestalteten Stempel für das Wandertagebuch. Raphael Weiß freut sich über seine Begegnungen mit Wanderern: „Das sind oft Menschen, die spirituell oder persönlich auf der Suche sind. Da können wir als Kirche natürlich helfen und zum Nachdenken anregen.“ Die Hospitalkirche bildete im Jahr 2014 die Keimzelle des Jakobswegs Silberberg. „Wir haben die Strecke dann nach und nach erweitert – sogar bis nach Tschechien“, er zählt Gerd Lauckner, einer der beiden Initiatoren der Strecke, der mich auf dem nächsten Abschnitt begleitet. Der 77-Jährige ist ein Urgestein des Pilgerns: Er lief bereits sieben Mal nach Santiago de Compostela – und fragte sich, warum es im Erzgebirge damals noch keinen Pilger weg gab.

Lieblingsplätze der Kindheit
Heute ist das Werk vollendet, die gesamte Strecke mit dem Muschelsymbol markiert. Die beiden Gründer ha ben die meisten Schilder eigenhändig aufgehängt. Die Route verbindet nicht nur Kirchen, sondern auch Stätten der Bergbaugeschichte, die teilweise zum Weltkulturerbe gehören: Seitdem Silberfunde vor rund 850 Jahren das erste große „Berggeschrey“ auslösten, sorgte der Abbau von Zinn und Kobalt, Eisenerz, Kaolin, Kupfer und Uran für Wohlstand. Wir verlassen Lößnitz durch eine prächtige Lindenallee. Der Wind rauscht in den Wipfeln der bis zu 200 Jahre alten Bäume. Am Wegesrand liegen kleine Häuser und Gärten. Mit seinem Hut mit Muschelplakette und dem langen Bambusstab – „selbst geschnitten, federleicht und in der Kirche gesegnet“ – zieht Gerd die Blicke der Spaziergänger auf sich. Hinter einer Hügelkuppe mit weitem Ausblick geht es schließlich ins offene Land. Beim Wandern macht Gerd mich immer wieder auf kleine Besonderheiten entlang des Weges aufmerksam: Pflanzen wie die würzige Knoblauchrauke oder der Frauenmantel, persönliche Lieblingsplätze seiner Kindheit oder ein verwittertes Steinsymbol über dem Portal einer mittelalterlichen Wasserburg: die Muschel des heiligen Jakobus. „Hier muss es also schon vor Jahrhunderten ein Hospiz oder eine Herberge gegeben haben“, ist er überzeugt. Dann erklimmen wir einen steilen Hügel. Üppige Vegetation und Schafweiden bedecken die einstige Ab raumhalde aus DDR-Zeiten, als die Wismut AG hier Uran förderte. Auf dem Gipfel steht weithin sichtbar ein großes Pilgerkreuz, das im Rahmen des neuen Jakobswegs aufge stellt wurde. An seinem Fuß haben Wanderer sogenann te Lastensteine mit ihren Wünschen abgelegt. Auf einem Schieferstein steht „Zuhörer und Retter“, auf einem an deren „Lehre mich Vertrauen“ oder nur: „Frieden“.
Stempeln und Staunen
„Wenn man fünf oder sechs Wochen zu Fuß unterwegs ist, verändert sich etwas in einem. Man entschleunigt und denkt darüber nach, was im Leben wichtig ist“, er zählt Gerd, während wir den Blick über die bunte Landschaft mit Bergen, Rapsfeldern und Gehöften, Kirch türmen und Schornsteinen schweifen lassen. „Man wird toleranter gegenüber anderen Auffassungen, Ideen und Religionen – ich bin auch schon mal mit einem Muslim gepilgert.“ Wenig später verabschieden wir uns in Bad Schlema, wo eine weitere Skulptur des Purple Path am Weg liegt: Die Skulptur „Stack“ des Bildhauers Tony Cragg sieht mit ihren verdrehten, übereinander gestapelten Schichten wie ein zerklüfteter Fels aus und passt somit gut zum Thema Bergbau. Als Pilgerwanderer lasse ich mir aber auch die Pilger-Litfaßsäule nicht entgehen, die ein Künst ler in einen bunten Hingucker verwandelt hat. Dann geht es aufwärts in Richtung Schneeberg. Zum Glück gibt es auf halber Strecke eine Erfrischung: „Man che Wanderer schauen ganz entsetzt, wenn sie den stei len Anstieg sehen“, sagt Silke Riedel, die mich bereits mit einem Krug kaltem Wasser erwartet. „Auf einen guten Weg!“, gibt sie als Trinkspruch aus. Überraschende Gast freundschaft am Pilgerweg – dabei war die Schneeber gerin selbst noch nie pilgern. Riedel zeigt mir historische Fotos und erzählt von frü her. Besonders die starken Frauen des Erzgebirges haben es ihr angetan. Beim Abschied drückt sie mir noch einen Stempel in mein Tagebuch. Frisch gestärkt, setze ich den Aufstieg kurz darauf im Turm der Kirche Sankt Wolfgang fort. Nach einem kurzen Verschnaufen in der Türmer stube ist die Spitze erreicht, und die Stadt mit ihrem mar kanten Rathaus und den barocken Bürgerhäusern liegt zu meinen Füßen. Für den letzten Wandertag habe ich mir ein besonde res Highlight aufgehoben: „Der Abschnitt des Poetenwegs ist fantastisch, ein Traum, für mich das schönste Stück des Jakobswegs“, hatte mir Gerd Lauckner noch mitgege ben. Und nun folge ich einem schmalen Pfad entlang des Eulenwassers, wie der Bach Pöltzsch auch genannt wird. Lichtungen mit Blumenwiesen wechseln sich mit Wald abschnitten unter bemoosten Buchen ab. DORFHOTEL MOAR AM LATEMAR ADVERTORIAL „In der Zeit liegt die Vergänglichkeit. Das bezeugt der Weltenlauf. Absolut nichts hält das auf“, ist auf eine schwarze Felsformation geschrieben – einer von vielen Reimen und Lebensweisheiten, die der Strecke ihren Na men gaben. Der Bachlauf teilt sich und vereint sich wie der, er hat Sandbänke und Inseln gebildet. Hin und wie der müssen umgestürzte Bäume überklettert werden, oder der Pfad verläuft halb im Wasser. Gerd hat nicht zu viel versprochen! Die Begegnung mit ihm hat der Wanderung einen besonderen Stempel aufgedrückt. Eine Erfahrung, von der auch der Pilger- Veteran mir erzählte: „Manche Leute, denen ich begegnet bin, vergesse ich nicht und muss oft an sie denken. Es ist eine rein gedankliche Verbindung, man muss sich nicht anrufen oder so. Aber auf irgendeinem Weg treffen wir uns einmal wieder!“

Info
Jakobsweg und Herzwege
Mehr als 5000 Kilometer Wanderwege sind im Erzgebirge markiert – Tageswanderungen mit einer besonders hohen Qualität tragen das Siegel „Herzwege“ des Tourismusverbands Erzgebirge. Der Jakobsweg Silberberg verläuft auf bereits bestehenden Routen und ist in acht Etappen zwischen sieben und 16 Kilometern Länge unterteilt. Überschneidungen gibt es unter anderem mit der knapp 100 Kilometer langen Rundwanderstrecke „Wanderbarer Silberberg“, die durch die Gemeinden des gleichnamigen Städte bundesführt.erzgbirge-tourismus.de